BEGEGNUNG

 

Wenn ich dir begegne, dann treffen sich zwei Lebensgeschichten. Wie eine Kette von sorgsam einandergereihten aufgefädelten Perlen, die langsam wuchsen und unzähligen Fluten und Ebben trotzten und aus den Fremdkörpern, die eindrangen und die Harmonie störten, ein neues dauerhaftes wunderschönes Etwas entstehen ließen.

So hat jeder von uns eine ausgeprägte Form, die es trotz hartem Muschelkleid zu öffnen gilt.

Mann und Frau sind wie eine Melodie. Manche Dur, viele Moll. Die einen sostenuto, manche con brio. Viele lieben die dissonanten Klänge mehr, um sich zu erkennen. Andere sehnen sich nach der Harmonie im Wechsel der Modulationen, ohne sich ihrer ganz eigenen Melodie bewußt zu werden. Lange nur eine einfache Klangfolge auf einer Oktave entwickeln sie im Laufe eines Lebens eine Größe einer Partitur, die nur noch von einem Meister zu interpretieren ist. Und es bleibt immer noch das Wagnis, eine 12-Ton-Musik erwischt zu haben und eine Dissonanz anzutreffen, die nie zur Erfüllung kommt.

Ich liebe die sanften Töne, die der steigenden Sequenzen nicht entbehren, die der Lösung heischen und sich aufbäumend in gewagte Wolken-Türme spielerisch entladen.

Mann und Frau, das ist ein Erkennen, Verstehen, ein Hinein-Stehen in den anderen. Gleichsam ein Hinein-Gehen in des anderen Iris, um dort aus der Sichtweise eines anderen Geschöpfes mit anderen Augen sehen zu lernen.

Ein schwieriges Unterfangen, da die Verletzungen den Glanz der Aura veränderten wie verwundete Rehe, die vom Fluchtwild zum Stoßwild geworden sind.

So sucht letztlich jeder Geborgenheit wie eine Wohnung, die Schutz bietet wie eine Umarmung, die nichts als Schließ-die-Augen flüstern will. Nimm die Räume deines Seins wahr, die Weiten, wo du fließen, dich erweitern kannst wie ein Fluß, der, ohne begradigt zu sein sich durch Täler und Auen, begleitet von blühenden Wiesen, sich in die Erde schmiegt.

Mann und Frau, das ist eine Herausforderung einer Symbiose, die doch mit jedem Atemzug ein Ende in sich trägt, ein ständiges Entfernen und wieder Auf-einander-Zugehen wie Ebbe und Flut, nie endend, immer neu, befruchtend und neue Hoffnung in sich tragend, sehnend und entbehrend.

Eine Umarmung von einem Du und einem Ich ist der Versuch einer Begegnung. Wie ein Händedruck. Ein Hineingeben eines zitternden kleinen Vogels, der dem Nest entfallen einer warmen Hand bedarf, die ihn umschließt, aber nicht erdrückt.

Wenn zwei Menschen sich aus der Fremdheit in die Vertrautheit wagen, dann gleicht es einer Wolke, die an einem Berge aufsteigen muß, nicht wissend, welchen Höhenunterschied sie überwinden und wie viele Wasserteilchen sie ertragen muß, um den Temperaturunterschied auszugleichen.

Wird sie hinabgetragen durch Winde, oder entlädt sie sich durch zu hohe Sättigung in heftigem Regen? Oder kann sie mehr aufnehmen, höher emporsteigen als das Hindernis, das sich vor ihr türmt und gleich einem weißen Turm in den Himmel ragt?

Nur Liebe heilt die Wunden der Jahrtausende, die ewig weitergegeben werden. Jeder trägt eine Wunde in sich. Die Liebe aber auch.

 

Copyright © 1999 by Irmingard A. Kotelev. All rights reserved

 

 

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